Liebe Freunde,
der Inhalt dieses Artikels mag den meisten Menschen unschön[1] erscheinen (unschön als Gegenteil von schön). Im Buch der Weisheit dem Tao te King übermittelt uns Laotse[2]:
„Schöne Worte sind nicht wahr, wahre Worte sind nicht schön“.
Ich möchte gestehen, dass ich dieses Zitat eine sehr lange Zeit missverstanden hatte. Es bedeutet nicht unbedingt, dass alle Dinge oder Beobachtungen, die wir dem Schönen zuordnen auch unwahr sind. Oder umgekehrt, dass all die Dinge, die wir als nicht schön bewerten, damit auch wahr sein müssen. Dieser Aphorismus möchte Ausdrücken, dass wir (ganz besonders) auf unserer Suche nach der Wahrheit nicht in die Bewertungen gehen sollen. Das sogenannte Wahre ist weder schön, noch sein Gegenteil. In diesem 81. Aphorismus werden die Attribute „schön“ bzw. „nicht schön“ als subjektive Bewertungen dargestellt. Das letztlich Wahre ist alles, was ist und liegt außerhalb jeder Bewertung und kann nur im Gewahrsein erfahren werden. Erstaunlicherweise taucht diese Botschaft in seinen 81 Aphorismen zweimal auf. Im letzten, also 81. Fers und im ersten, dem 1. Aphorismus, was die Aussage im besonderen Maas unterstreicht. So beginnt das Tao te king mit den Worten:
„Der SINN, der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige SINN. Der Name, der sich nennen lässt, ist nicht der ewige Name.“[3].
Diese Zeilen legen uns nahe, festgefahrene Denkweisen abzulegen und Widersprüche anzunehmen. Das Tao (das Wahre) ist unsichtbar und nicht zu greifen. Es steckt in allen Dingen der Welt. Allein der Versuch, es zu fassen, scheitert an dem dualistischen Denken[4] bzw. daran, die Erfahrungen kategorisieren zu wollen[5].
Bitte stellt Euch doch einmal die Aufgabe, Euer momentanes Gefühl zu analysieren. In dem Augenblick, wo Ihr das macht, ist das Gefühl plötzlich verschwunden und hat einem neuen Gefühl Platz gemacht (einer Art Neugier oder Motivation). So wird es uns immer ergehen, ein Gefühl lässt sich durch den Intellekt nicht bestimmen. Konzentrieren wir uns dagegen auf eine rein intellektuelle Handlung, dann werden die Gefühle verdrängt. Gefühle und Intellekt sind komplementär, sie können nicht hermetisch getrennt werden, es gilt die Unschärfe[6]. Wer also versucht, das Unsichtbare sehen zu wollen, sieht nur das Sichtbare und nicht das Unsichtbare und damit bleibt ihm die Erkenntnis verschlossen. Die Kategorien, also die Begriffsgruppen, mit denen wir die Welt erklären und Phänomene bewerten, nennt Laotse „Zehntausend Dinge“. Diese Dinge sind jedoch nur Erscheinungsformen und nicht die Essenz des Tao. Die Essenz entzieht sich jedem Versuch der Einordnung.
„Das Ergebnis all dessen ist, dass die Erscheinungen der Welt real sind, wenn sie als das Selbst erfahren werden und illusionär, wenn sie als getrennt vom Selbst wahrgenommen werden.“
Ramana Maharishi[7]
Liebe Freunde,
sicherlich stellen meine bisherigen Zeilen selbst ein Thema für einen eigenen Artikel dar. Und doch habe ich sie als Einfügung gewählt, um etwas darzustellen, was von den meisten Menschen – mich inbegriffen – bisher entweder bewusst oder unbewusst ignoriert oder verdrängt wird. Die nun folgende Thematik erscheint auf den ersten Eindruck derartig grotesk, dass ich sie, als ich vor etwa 30 Jahren erstmals von ihr hörte, für abwegig hielt, bzw. bestenfalls der Mythologie zuordnete. Wie ein automatischer Abwehrreflex schob ich beiseite, was ich Euch im Folgenden mitteilen möchte. Spätestens seit meinen Recherchen zum Buch „Der verratene Himmel – Rückkehr nach Eden“ ist mir bewusst, daß diese Art der Abwehrreaktion eine Art Selbstschutz des Verstandes ist. Bitte achtet selber auf Eure erste Reaktion, wenn Ihr diese Zeilen lest:
Wir sind gefangen in einer Scheinwelt. Die Welt, die wir um uns herum wahrnehmen, ist nicht die wirkliche Welt. Nicht, weil sie nicht existiert – sie existiert durchaus -, sondern weil wir sie durch den Schleier des Schlafes sehen. Unsere Unbewusstheit steht dazwischen; wir schauen sie an, und wir interpretieren sie auf unsere eigene Art und Weise.
Wenn ich diese Zeilen lese und zum wiederholten Mal auf mich einwirken lasse, bemerke ich, wie mein Verstand immer noch rebelliert. Ganz offenbar scheint der Grundsatz „der Verstand hat für alles Erklärungen“ zu greifen und ein altes Konstrukt in meinem Gehirn suggeriert mir, dass es sich bei dieser Aussage um eine nicht haltbare Theorie handeln muss. Andererseits verspüre ich gleichzeitig tief in mir eine innere Gewissheit, dass diese Aussage zutrifft. Wie ist es Euch gerade ergangen? Habt ihr auch dieses Unbehagen und innerlich Ablehnende gespürt? Das wäre verständlich. Sich aller bisher als gültig erscheinenden Annahmen und Vorstellungen davon, was real ist, zu entledigen und sich dem Gedanken zu öffnen, dass das, was wir bisher für real gehalten haben, nicht die eigentliche Wirklichkeit ist, ist ein so radikaler Schritt, dass es uns durchaus erst einmal zu vorkommen mag, als würde der festen Boden unter unseren Füßen ins Wanken geraten.
In seinem Buch „Bewusstsein – Beobachte ohne zu urteilen“[8] berichtet Osho:
„Ihr nehmt die ganze Existenz als Leinwand, und dann projiziert ihr den Inhalt Eures Verstandes darauf. Ihr seht Dinge, die gar nicht da sind, und die Dinge, die da sind, seht ihr nicht. Doch der Verstand hat für alles Erklärungen. Wenn euch Zweifel kommen, so kann der Verstand es erklären. Er schafft Theorien, Philosophien, Systeme, nur damit er das Gefühl hat, dass alles in Ordnung ist, damit nichts falsch ist – doch alles ist falsch, solange ihr schlaft.“
Nun zählt Osho eher zu den neuzeitlichen Vertretern der Scheinwelt. In der Einführung dieses Artikels erwähnte ich Laotse. Ihm war die Lehre der Maya – der Illusion bekannt. Shankara[9], ein indischer Philosoph aus dem 8 Jahrhundert n.Chr., der sich auf die Vedanta[10] und die Hindus bezog, sah bereits damals diese Welt als Illusion.
„Denn wenn die Bewusstheit vollkommen wird, verschwindet diese Welt einfach -, und eine andere Welt enthüllt sich. Maya[11] verschwindet, die Illusion verschwindet – die Illusion gibt es nur wegen unseres Schlafs, wegen der Unbewusstheit.“[12]
Nach den Überlieferungen der Hindus ist Maya die substanzlose oberflächliche Wirklichkeit. Allerdings scheint es verschiedene Ebenen der Wirklichkeit zu geben: es gibt diese relative Ebene der bedingten und erfahrbaren Welt in der wir gemeinsam leben, und die für uns als wirklich wirkt. Aber es gibt eben auch Brahman, die absolute Ebene die ewig und unveränderlich ist und der Urgrund von Allem ist, und diese Ebene wird als die tatsächliche zu Grunde liegende Wirklichkeit und Wahrheit beschrieben.
So existiert also neben der Scheinwelt Maya noch eine Welt der „wahren Wirklichkeit“. In der hinduistischen Tradition steht Brahman für das Absolute, das Allumfassende, das Universelle. Es ist das alles durchdringende, göttliche, namenlose, formlose, ewig absolute, allem innewohnende Prinzip. Brahman ist das zentrale göttliche Prinzip des Vedanta. Brahman hat keine materielle Qualität, Es ist kein Konzept dieser Welt und kann daher auch nicht mit Worten oder Bildern beschrieben werden. Brahman ist das Selbst, das wahre Ich eines jeden Organismus und die höchste nicht-duale Wirklichkeit. ES kann nicht mit unseren normalen Sinnesorganen (Karmendriyas[13] ) direkt erfahren werden, jedoch realisiert ES sich im Absoluten, in dem auf das Selbst bezogenen Bewusstsein (Samadhi). In der Schrift Brhadaranyaka Upanishad[14] 2.5.19 wird gesagt:
„Gott nimmt durch seine Maya viele Formen an. Er nimmt diese an, um sich selbst zu offenbaren.“ Die Maya ist demzufolge eine Gnade des Herrn durch die wir ihn erkennen können. Oder anders gesagt: „Das Göttliche jenseits aller Namen und Formen offenbart sich dem Menschen in Gestalt der Maya, entscheidend ist, hinter den Schleier zu schauen und Brahman zu erkennen.“
„Im Traum mag einer Wein trinken. Während des Traumes weiß er nicht, dass er träumt.“ sagt der alte taoistische Weise Dschuang Dsi. „Erwacht er, dann erst bemerkt er, dass er geträumt hat. So gibt es wohl auch ein großes Erwachen, und danach erkennen wir erst diesen großen Traum. Aber die Toten halten sich für wachend.“
„Ein Traum, ein Blitz und eine Wolke“ heißt es im Vajracchedika[15], dem Diamant-Sutra[16], „so sollen wir die Welt betrachten“. Die Gnostiker sprachen von den Archonten[17], den Dienern des tückischen Untergottes, dem Demiurg, der die Funken unseres Bewusstseins in der stofflichen Welt band und mit ihnen die Illusion säte, dies sei die höchste Wirklichkeit.
P.D. Ouspensky[18] zufolge, der die Lehren des Mystikers G.I.Gurdjeff[19] interpretierte, belügen wir uns selbst und einander ständig, ohne es zu merken; wir schlafen, obwohl wir wach zu sein glauben; wir „puffern“ uns gegen die schmerzhafte Wahrheit der „wirklichen Welt“ ab. Aber, so erklärte Gurdjeff mit Nachdruck, wir könnten unser Bewusstsein durch „Selbstbeobachtung“ schärfen – die eigentliche Bedeutung der Ermahnung Sokrates[20] „Erkenne dich selbst“.
Diese Weisheit mag für viele Mensch als eine Art Koan verstanden werden. Ein Koan ist im chinesischen Chan- bzw. im Zen-Buddhismus eine kurze Anekdote, die auf den ungeschulten Laien meist vollkommen paradox, unverständlich oder sinnlos wirkt. So paradox es sich also für uns (speziell unseren Verstand) auch anhören mag, in unserer Scheinwelt können wir die Wahrheit offenbar nur erfassen, wenn wir nicht träumen. Denn ein träumender Verstand kann die Wahrheit nicht erkennen. Ein träumender Verstand verwandelt die Wahrheit ebenfalls in einen Traum. Leid ist ein Zustand der Unbewusstheit. Wir sind unglücklich, weil wir uns dessen, was wir tun, was wir denken, was wir fühlen, nicht bewusst sind – daher widersprechen wir uns in jedem Augenblick selbst.
„Die Menschen befinden sich in einem gefallenen Zustand. Tatsächlich ist das die Bedeutung der christlichen Parabel vom Sündenfall Adams und seiner Vertreibung aus dem Paradies. Warum wurden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben? Sie wurden vertrieben, weil sie von der Frucht der Erkenntnis gegessen hatten. Sie wurden vertrieben, weil sie einen Verstand entwickelt hatten. Wenn man sich mit dem Verstand identifiziert, verliert man das Bewusstsein – der Verstand bedeutet Schlaf, bedeutet Lärm, bedeutet Mechanik. Wenn man zum Verstand wird, verliert man das Bewusstsein.“
Liebe Freunde,
an dieser Stelle möchte ich diesen Artikel zunächst beenden. Zum Schluß dieses ersten Teils möchte ich Euch noch einmal daran erinnern: in unserem Wesenskern sind wir „außerhalb“ jeder Scheinwelten. Illusionen sind Projektionen von künstlichen Selbsten, den Egos. Aus dem Selbst heraus brauchen wir auch keinerlei Aufklärungen, gleich welcher Art. Dieser Artikel soll dazu beitragen, den Schleier des Maya zu lüften… um hierdurch zu einer wahren Selbstfindung zu gelangen.
In der nächsten Woche erscheint der nächste Teil in dem ich dieses Thema ein Stück mehr für euch entschlüsseln möchte.
Me Agape
Euer
Dieter Broers
Quellennachweise:
[1] http://was-ist-das-gegenteil-von.de/schön
[2] Laotse ist ein legendärer chinesischer Philosoph, der im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben soll. Aus seinem Tao te king – „Das Buch vom Sinn und Leben“, stammt das obige Zitat aus dem
Aphorismus 81.
[3] http://www.iging.com/laotse/laotsed.htm
[4] Englert Berthold-Georg, O. Scully Marlan und Walther Herbert, Komplementarität und Welle-Teilchen-Dualismus, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1995
[5] Gefühle, Glaube und Geist haben einerseits und Elektron / Quant andererseits verblüffende Parallelen. Gefühle, Glaube und Geist unterliegen quantenmechanischen Gesetzen: Unschärfen, Komplementaritäten, Quantensprüngen, Nichtlokalitäten.
[6] Die Unschärfe ist eine Form der Ungenauigkeit, Unbestimmtheit oder Ungewissheit bei der Abbildung bzw. Wiedergabe eines Objekts oder Sachverhalts. Die Heisenbergsche Unschärferelation oder Unbestimmtheitsrelation ist die Aussage der Quantenphysik, die besagt, dass zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind. Das bekannteste Beispiel für ein Paar solcher Eigenschaften sind Ort und Impuls.
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Ramana_Maharshi
[8] Bewusstsein, Beobachte ohne zu urteilen. Osho, Ullstein Verlag, 2004.
[9] Indischer Philosoph aus dem 8 Jahrhundert n.Chr.
[10] System der indischen Philosophie
[11] Maya bedeutet wohl wörtlich „Illusion, Schein, Trug“ und besagt, dass die Welt wie wir sie wahrnehmen nicht die letztendliche Wirklichkeit ist, sondern eben nur ein Trugschluss. In der indischen Philosophie gilt die Maya als größtes Hindernis auf dem spirituellen Weg.
[12] Bewusstsein, Beobachte ohne zu urteilen. Osho, Ullstein Verlag, 2004.
[13] http://wiki.yoga-vidya.de/Karmendriya
[14] Die Upanishaden – der mystische Teil der Veden. Die Veden bilden den Ursprung und die Basis des Hinduismus, die Upanishaden sind eine Sammlung von Texten und sie enthalten die Mystik und Philosophie der Veden.
[15] https://de.wikipedia.org/wiki/Diamant-Sutra
[16] http://lapislazulitexts.com/tripitaka/T0235_LL_vajracchedika
[17] Im Jahr 1945 wurde eine Sammlung historischer Texte in einer Höhle bei Nag Hammadi (Ägypten) gefunden. Diese 52 Texte werden als originale Schriften der Tradition der Gnostik angesehen und sind fast 2000 Jahre alt. Sie sind ein seltener Beweis für eine mystische Tradition mit einem außergewöhnlichem Schöpfungsmythos. Die Texte beschreiben eine nicht-menschliche Spezies genannt Archonten, die als Herrscher der Menschheit und gleichzeitig als Betrüger und Täuscher beschrieben werden. Ein faszinierendes Thema mit brisanten Querverbindungen zu Psychologie und Religion.
[18] https://de.wikibooks.org/wiki/Bewusstseinserweiterung:_Selbsterinnern
[19] https://de.wikipedia.org/wiki/Georges_I._Gurdjieff
[20] Gilt als sokratische Ermahnung